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Institut für Archäologie Prähistorische Archäologie

Leben am Zürichsee – Interdisziplinäre Untersuchungen zu Gesundheit und Ernährung zwischen Mittelalter und Neuzeit

von Anto Goujon

Fischtafel (1709) im Rathaus Zürich. In: C. Barrand Wiener, P. Jezler, R. Abegg, R. Böhmer, K. Grunder, Die Stadt Zürich – 1. Die Stadt vor der Mauer, mittelalterliche Befestigung und Limmatraum (Birkhäuser Basel 1999) 345, Abb. 345.

Um gewisse kulturhistorisch relevante Fragenstellungen, wie allgemeine Ernährung oder Gesundheitszustand einer Bevölkerungsschicht sowie Vorkommen und Häufigkeit spezifischer Krankheiten zu klären, braucht es generelle Referenzstudien und -daten, die eine Grundlage für zukünftige Projekte und Auswertungen bilden und gleichzeitig der Ausbildung von zukünftigen ExpertInnen dient. Solche Referenzdaten können beispielsweise aus bereits erfolgten Altgrabungen gewonnen werden, deren Aufarbeitung sowohl in der Archäologie als auch in der Anthropologie ein aktuelles Thema darstellt.

Ausschlaggebend für das Dissertationsprojekt ist die Masterarbeit «Examination of two Late Medieval skeletons from the Island of Ufenau SZ – An interdisciplinary approach to the identification of potentially historically relevant human remains», die hervorgehoben hat, wie wichtig Referenzdaten im Bereich der Isotopenarchäometrie sowie der Nachweis eines freshwater reservoir effect sind, da ebendiese Datengrundlage für den Grossraum Zürich fehlte (Goujon/Turck/Häusler 2023; Goujon et al. 2023). So könnten Fragen über die Ernährungsweise, den Status und die Herkunft, respektive die Mobilität, der in der Masterarbeit untersuchten Individuen geklärt werden. Über die Ernährung der herkömmlichen mittelalterlichen Bevölkerung und speziell dem Konsum von Fisch in der Nordostschweiz anhand anthropologischer Nachweise ist wenig bekannt (Marti-Grädel/Hüster Plogmann/Kühn 2014; Ulrich-Bochsler et al. 2014; Zeischka-Kenzler 2016; Deschler-Erb/Häberle/Granado 2020).

Diese ganzheitliche Untersuchung des anthropologischen Materials der gewählten Fundstellen fehlt bis heute im Gebiet des Zürichsees, obwohl sie für das Verständnis des untersuchten Zeitraumes unerlässlich ist (Deschler-Erb/Häberle/Granado 2020). Um diesem Forschungsdesiderat gerecht zu werden, wird im Dissertationsprojekt angestrebt, aus rezenten Proben diverser Fischarten aus dem Zürich- und Obersee anhand von Radiokarbondatierungen einen allfälligen freshwater reservoir effect nachzuweisen. Um eine fischreiche Ernährung untersuchen zu können, wird von denselben rezenten Fischproben auch anhand von stabilen Isotopen (∂13C, ∂16N, ∂34S) ein Nahrungsnetz erstellt. Dieses kann für die weiteren Untersuchungen der menschlichen Überreste aus dem Zürich- und Oberseegebiet als Vergleich herangezogen werden. Dazu wird der vorhandene Zahnstein einiger Individuen analysiert, um eine fischreiche Ernährung ebenso anhand von Fischproteinen im Zahnstein nachweisen zu können, die mit den stabilen Isotopendaten verglichen werden können. Die stabilen Isotopenwerte der untersuchten Individuen aus dem Zürich- und Oberseegebiet geben einen Einblick in die Ernährungsweisen der damaligen Bevölkerung, was wiederum Fragen zu Status und Lebensumständen der einzelnen Individuen wie auch der untersuchten Gruppen klären kann (Abel 1981; Pfrommer & Karg 1997; Kreckel 2004; Privat et al. 2007; Nehlich et al. 2011; Lamb et al. 2014; Haeusler et al. 2016; Moghaddam et al. 2016; Gugora et al. 2018; Moghaddam/Müller/Lösch 2018; Olsen et al. 2018; Wilkin et al. 2020; Wilkin et al. 2021).

Dieser interdisziplinäre Ansatz trägt dazu bei, die Problematik des freshwater reservoir effects in der Region Zürichsee zu korrigieren (Keaveney/Reimer 2012; Van Strydonck 2012; Alves et al. 2018). Ähnliche Studien wurden bereits bei archäologischen Projekten in Europa durchgeführt (Olsen et al. 2010; Philippsen 2013; Pospieszny 2015). Erste Untersuchungen zu Süsswasserfischen in der Schweiz wurden bereits durch Häberle et al. (2016a; 2016b; 2019) realisiert. Da sich die Geologie, die Gewässer und die Ökosysteme in der Schweiz stark unterscheiden, braucht es für die verschiedenen Regionen eigene Referenzstudien. Das seit Jahrtausenden stark besiedelte Gebiet um den Zürichsee eignet sich da besonders, wie die vielen mit Fisch in Verbindung stehenden Funde und Schriftquellen zeigen (Amacher 1996). Dazu ist die Thematik zu Ernährungsweisen und Gesundheit früherer Epochen in der archäologischen Forschung hochaktuell und für den Zeitraum zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit in der Nordostschweiz noch wenig anhand biologischer Daten untersucht (Ulrich-Bochsler et al. 2014; Zeischka-Kenzler 2016; Deschler-Erb/Häberle/Granado 2020). Die Rekonstruktion von Ernährungsgewohnheiten, Gesundheitszuständen und Krankheiten anhand bioarchäologischer Herangehensweisen sind für das Verständnis vergangener Epochen und deren sozioökonomischen und politischen Vorkommnisse somit essenziell, sofern sie in Kombination mit kulturhistorischen, historischen und komparativen Ansätzen verknüpft werden.

 

Literatur

Abel W, Stufen der Ernährung. Eine historische Skizze (Göttingen 1981).

Alves EQ, Macario K, Ascough P, Bronk Ramsay C, The worldwide marine radiocarbon reservoir effect: Definitions, mechanisms, and prospects. Reviews of Geophysics 56, 2018, 278–305. [https://doi.org/10.1002/2017RG000588]

Amacher U, Zürcher Fischerei im Spätmittelalter. Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft Zürich, Band 63 (Zürich 1996).

Deschler-Erb S, Häberle S, Granado J, 3.5 Tierhaltung, Jagd und Fischerei. In: Niffeler U (Hrsg.), Die Schweiz vom Paläolithikum bis zum Mittelalter – Vom Neandertaler bis zum Bundesstaat, Archäologie der Zeit von 1350 bis 1850, Band 8 (Basel 2020) 76–84.

Goujon A, Turck R, Häusler M, Could it be? – A re-examination of a late medieval syphilitic from the island of Ufenau SZ. Bulletin der Schweizerischen Gesellschaft für Anthropologie, (2019) 25 (2), 2023, 17–44.

Goujon AFC, Turck R, Janosa M, Gantenbein UL, Häusler M, Ulrich von Huttens Grab: Ist es wirklich Hutten?. In: Giesemann B (Hrsg.), Heimatkalender 2023 (Gelnhausen 2023) 45–59. [https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/227209/]

Gugora A, Dupras TL, Fóthi E, Pre-dating paprika: Reconstructing childhood and adulthood diet at medieval (13th century CE) Solt-Tételhegy, Hungary from stable carbon and nitrogen isotope analyses. Journal of Archaeological Science: Reports 18, 2018, 151–160. [https://doi.org/10.1016/j.jasrep.2017.12.036]

Haeusler M, Haas C, Lösch S, Moghaddam N, Villa IM, Kayser M, Seiler R, Rühli F, Janosa M, Papageorgopoulou Ch, Multidisciplinary Identification of the Controversial Freedom Fighter Jörg Jenatsch, Assassinated 1639 in Chur, Switzerland. PLoS One 11, 2016, 1618–1639.

Häberle S, Fuller BT, Nehlich O, Van Neer W, Schibler J, Hüster Plogmann H, Inter- and intraspecies variability in stable isotope ratio values of archaeological freshwater fish remains from Switzerland (11th–19th centuries AD). Environmental Archaeology 21 (2), 2016a, 119–132. [https://doi.org/10.1179/1749631414Y.0000000042]

Häberle S, Lehlich O, Fuller BT, Schibler J, Van Neer W, Hüster Plogmann H, Carbon and nitrogen isotopic ratios in archaeological and modern Swiss fish as possible markers for diachronic anthropogenic activity in freshwater ecosystems. Journal of Archaeological Science: Reports 10, 2016b, 411–423. [http://dx.doi.org/10.1016/j.jasrep.2016.10.012]

Häberle S, Hüster Plogmann H, Fisch exploitation in medieval and early modern Switzerland: Evidence from the ichtyoarchaeological record and historical sources. International Journal of Osteoarchaeology 29, 2019, 420–431. [DOI: 10.1002/oa.2794]

Keaveney EM, Reimer PJ, Understanding the variability in freshwater radiocarbon reservoir offsets: a cautionary tale. Journal of Archaeological Science 39, 2012, 1306–1316. [https://doi.org/10.1016/j.jas.2011.12.025]

Kreckel R, Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit (Frankfurt a. M/New York 20043).

Lamb AL, Evans JE, Buckley R, Appleby J, Multi-isotope analysis demonstrates significant lifestyle changes in King Richard III. Journal of Archaeological Science 50, 2014, 559–565.

Marti-Grädel E, Hüster Plogmann H, Kühn M, 6.2 Ernährung. In: Niffeler U (Hrsg.), Die Schweiz vom Paläolithikum bis zum Mittelalter – Vom Neandertaler bis zum Bundesstaat, Archäologie der Zeit von 800 bis 1350, Band 7 (Basel 2014) 376–388.

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Nehlich O, Fuller BT, Jay M, Mora A, Nicholson RA, Smith CI, Richards MP, Application of sulphur isotope ratios to examine weaning patterns and freshwater fish consumption in Roman Oxfordshire, UK. Geochimica et Cosmochimica Acta 75, 2011, 4963–4977.

Olsen J, Heinemeier J, Lübke H, Lüth F, Terberger T, Dietary habits and freshwater reservoir effects in bones from a Neolithic NE German cemetery. In: Jull AJT (Ed.), Proceedings of the 20th International Radiocarbon Conference. Radiocarbon 52 (2–3), 2010, 635–644.

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Zeischka-Kenzler A, 3.6.3 Gesundheit und Ernährung. In: Scholkmann B, Kenzler H, Schreg R (Hrsg.), Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit – Grundwissen (Darmstadt 2016) 281–283.

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